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Publicly Available Published by De Gruyter March 6, 2021

Wissen generieren: Das „Kompetenznetz Public Health zu COVID-19“

Generating knowledge: The Public Health Competence Network on COVID-19
  • Sinah Evers EMAIL logo , Hajo Zeeb and Ansgar Gerhardus
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Um die wissenschaftliche Basis für Maßnahmen gegen COVID-19 zu schaffen, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig. Im März 2020 wurde das „Kompetenznetz Public Health zu COVID-19“ gegründet, um evidenzbasierte Erkenntnisse zu sammeln, aufzubereiten und zu disseminieren. Im Juni waren bereits über 30 Fachgesellschaften an der Bereitstellung abgestimmter Informationen beteiligt: Bis November wurden fast 50 „Policy Briefs“ und Hintergrundpapiere in fachübergreifender Zusammenarbeit verfasst.

Abstract

Interdisciplinary collaboration is needed to create a scientific basis for measures against COVID-19. The “Competence Network Public Health on COVID-19“ was founded in March 2020 to collect, prepare and disseminate evidence-based findings. By June 2020 more than 30 professional societies were involved in providing coordinated information. By November, almost 50 policy briefs and background papers had been written in interdisciplinary cooperation.

Ausgangssituation

Die seit Anfang 2020 neu auftretende COVID-19 Pandemie hat sich sehr schnell global ausgebreitet und zeitnah immense gesundheitliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen nach sich gezogen. In kürzester Zeit galt es, die Übertragung, den Verlauf und die Folgen der Krankheit zu erforschen, um geeignete Gegenmaßnahmen veranlassen zu können. Fragen zur Verbreitung, zu Auswirkungen in bestimmten Bevölkerungsgruppen, Schutzmaßnahmen und deren Nebenwirkungen, ethischen Aspekten oder ökonomischen Folgen gehen jedoch weit über einzelne wissenschaftliche Disziplinen hinaus. Gleichzeitig ist es in dieser Situation wichtig, politisch Verantwortliche und die Bevölkerung nicht durch unbestätigte, teilweise auch widersprüchliche Informationen zu verunsichern.

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, möglichst viele wissenschaftliche Fachgesellschaften aus dem erweiterten Public-Health-Bereich in einem Netzwerk zusammenzubringen und gemeinsam abgestimmte und geprüfte Informationen zu erstellen.

Ziel und Umsetzung

Ziel des Ende März 2020 gegründeten „Kompetenznetz Public Health zu COVID-19“ ist es, kurzfristig zuverlässige, interdisziplinäre Expertise zu COVID-19 für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Dafür werden wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengestellt, aufbereitet und in verständlicher Form verbreitet. Sich zu vernetzen soll dabei die Vorteile haben, Mehrfacharbeiten zu vermeiden, Ressourcen zu bündeln, die Perspektiven von Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen einzubringen, deren jeweilige Reichweite zu nutzen und so Synergieeffekte zu erzeugen.

Anfang Juni 2020 waren bereits über 30 wissenschaftliche Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Europa zusammengeschlossen. Eine Webseite (https://www.public-health-covid19.de) wurde in kurzer Zeit entwickelt und eine flexible Kommunikationsstruktur etabliert. Beispielhafte Ergebnisse der „ersten Stunde“ waren ein Policy Brief zur Wirkung von Schulschließungen und -öffnungen [1] oder ein Hintergrundpapier u.a. zur Frage, ob die Pandemie und die Schutzmaßnahmen die soziale Ungleichheit verschärfen [2]. Als finanzielle Ressourcen standen nur die Bordmittel der beteiligten Institutionen zur Verfügung.

Inhaltlich ist das Kompetenznetz in aktuell 13 Arbeitsgruppen strukturiert, die jeweils von zwei bis drei Personen koordiniert werden. Zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Videokonferenzen, gibt es anlassbezogene digitale Treffen sowie den Austausch über andere Medien, sowohl in den Arbeitsgruppen als auch bei der Dokumentenerstellung. Die Arbeit erfolgt auf freiwilliger Basis, weitgehend in der Freizeit aller Beteiligten.

Die Arbeitsgruppen können übergreifende Ziele haben wie „Modellierung“ oder „Ethik“, oder sich konkreten Themen widmen, so etwa bestimmten Arbeitsplätzen, der sozialen Isolation oder Menschen mit Pflegebedarf. Diese wählen selbst die Themen für Hintergrundpapiere, Policy Briefs oder Handreichungen. Der Review-Prozess innerhalb des Kompetenznetzes ist so angelegt, dass ein Ergebnis möglichst schnell publiziert werden kann, während zeitgleich ein möglichst hoher wissenschaftlicher Standard garantiert wird (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Peer-Review-Prozess im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 (Quelle: Eigene Darstellung).
Abbildung 1:

Peer-Review-Prozess im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 (Quelle: Eigene Darstellung).

Zuerst erfolgt die interne Anmeldung des Themas mit einem Abstract, um eine doppelte Themenbearbeitung zu vermeiden und weiteren Personen die Mitarbeit zu ermöglichen. Während das Dokument verfasst wird, wird bereits für den Peer-Review rekrutiert. Dieser wird von mindestens drei Personen idealerweise in 48 Stunden vollzogen und für die anschließende Überarbeitung genutzt, ggf. unter Berücksichtigugn weiterer Kommentare aus dem Kompetenznetz. Nach der Veröffentlichung und Dissemination können die einzelnen Dokumente laufend an neue Informationslagen angepasst werden.

Herausforderungen

Trotz der erfolgsversprechenden Voraussetzungen für die Zusammenarbeit – wie dem hohen Grad an Expertise und Motivation und den etablierten Kommunikationswegen und Abläufen – steht das Kompetenznetz auch vor Herausforderungen.

Um Evidenz zur Beantwortung einer Fragestellung zusammenfassen zu können, müssen entsprechende Informationen zur Verfügung stehen. So kann zu Themen, zu denen bisher kaum wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen, die bestmögliche Zusammenfassung weiterhin wenig aufschlussreich sein oder es kann Einschränkungen in der Beantwortung präziser Teilfragen geben. Dennoch können auch nur teilweise bearbeitbare Themen zu aufschlussreichen Ergebnissen führen, und Hinweise auf dringend benötigte Daten und Informationen geben. Ein Beispiel ist das Papier zu der „Corona-Warn-App“, das Vorschläge zur Evaluation unter umfassender Berücksichtigung des Datenschutzes enthält [3].

Der Anspruch, präzise und differenziert zu informieren, lässt sich manchmal nicht mit der Forderung von Medien oder Politik nach einfachen und schnellen Antworten vereinbaren. Einerseits schrecken lange Texte, in denen auf die Komplexität der Situation eingegangen wird, viele Adressat*innen ab. Andererseits kann ein hoher Qualitätsstandard nicht in aller Kürze erreicht werden. Auf aktuelle Ereignisse kurzfristig einzugehen ist daher in der Regel für das Kompetenznetz nicht möglich, auch wenn neue Wege der schnellen Evidenzsynthese gesucht und genutzt werden.

Zu den Herausforderungen gehört neben der kontinuierlichen Sicherung der Beteiligung möglichst vieler Fachpersonen die bisher fehlende externe Finanzierung.

Resultat und Ausblick

Bis Mitte Dezember sind fast 50 „Policy Briefs“, Hintergrundpapiere und Handreichungen veröffentlicht worden. Thematisch wird die ganze Bandbreite von Public Health abgedeckt, z.B. die Ermöglichung sozialer Kontakte von Bewohner*innen in Alten- und Pflegeheimen [4], die Versorgungssituation Nicht-COVID-19-Erkrankter [5], Auswirkungen von Infektionsschutzmaßnahmen im Bereich Umwelt und Gesundheit [6] oder die Gesundheit von Geflüchteten [7].

Zunehmend werden die Publikationen des Kompetenznetzes von regionalen und nationalen Medien aufgegriffen und fließen sowohl in übergreifende politische wie auch konkrete Entscheidungen vor Ort ein. Sie sind Grundlagen für transparente Entscheidungen auf der besten verfügbaren, interdisziplinären Evidenz. Beispielsweise fand die Stellungnahme zum Ausbreitungspotential in Sammelunterkünften für geflüchtete Menschen aus der Arbeitsgruppe Vulnerabilität des Kompetenznetzes viel Beachtung [7]. Diese wurde vielfach medial aufgegriffen und z.B. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verbreitet [8].

Insgesamt kann das Kompetenznetz als Beispiel für eine gut funktionierende und fachübergreifende Zusammenarbeit gesehen werden. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Interdisziplinarität, also die ungewöhnlich breite Aufstellung auch über einen engeren Public-Health-Bereich hinaus. Es wäre wünschenswert, die strukturierte Zusammenarbeit und den regelmäßigen Austausch auch in Zukunft aufrecht zu erhalten und den starken Kooperationsgedanken des Kompetenznetzes weiter produktiv zu entwickeln.

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

Literatur

1. Sell K, Pfadenhauer L, Zeeb H, Rehfuess E. Öffnung von Schulen als Teil einer Übergangsstrategie. Bremen: Kompetenznetz Public Health zu COVID-19, 2020. (Zitierdatum: 16.12.2020), aufrufbar unter: https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/2020_06_22_Fact_Sheet_ Schulschlieung_revised.pdf.Search in Google Scholar

2. Hoffmann B, Dragano N, Bolte G, Butler J, Icks A, Knöchelmann A, et al. Hintergrundpapier: Indirekte Gesundheitsfolgen der aktuellen Maßnahmen zum Infektionsschutz in Deutschland. Bremen: Kompetenznetz Public Health zu COVID-19, 2020. (Zitierdatum: 16.12.2020), aufrufbar unter https://www.public-health- covid19.de/images/2020/Ergebnisse/Hintergrundpapier_ Indirekte_Folgen_von_Manahmen_des_Infektionsschutzes_ Version01_23042020.pdf.Search in Google Scholar

3. Jahnel T, Kernebeck S, Böbel S, Buchner B, Grill E, Hinck S, et al. Contact-Tracing-Apps als unterstützende Maßnahme bei der Kontaktpersonennachverfolgung von COVID-19. Bremen: Kompetenznetz Public Health zu COVID-19, 2020. (Zitierdatum: 16.12.2020), aufrufbar unter https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/20200701_Corona_apps_Hintergrundpapier_V02.pdf.10.1055/a-1195-2474Search in Google Scholar PubMed PubMed Central

4. Hämel K, Horn A, Rolf A, Graffmann-Weschke K, Petereit-Haack G, Ziech P, et al. Ermöglichung sozialer Kontakte von Bewohner*innen in Alten-und Pflegeheimen während der COVID-19-Pandemie. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, 2020. (Zitierdatum 16.12.2020) aufrufbar unter https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/Hindergrundpapier_Heime_SozialeKontakte_201215_final.pdf.Search in Google Scholar

5. Messer M, Starke D, Wagner P, Bader B, Bierbaum T, Fischer T, et al. Die Versorgungssituation von Nicht-COVID-19- Erkrankten in Zeiten von Corona. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, 2020. (Zitierdatum 16.12.2020) aufrufbar unter https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/20-09-10_Hintergrundpapier_Versorgung- Nicht-Covid-1.pdf.Search in Google Scholar

6. Hoffmann B, Bolte G, Bunge C, Jung L, Rehling J, Lanzinger S, Plass D. Auswirkungen von Infektionsschutzmaßnahmen im Bereich Umwelt und Gesundheit. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, 2020. (Zitierdatum 16.12.2020) aufrufbar unter https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/Infektionsschutzmanahmen_und_umweltbezogene_Gesundheit_FINAL2.pdf.Search in Google Scholar

7. Bozorgmehr K, Hintermeier M, Razum O, et al. SARS-CoV2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete: Epidemiologische und normativ-rechtliche Aspekte. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, 2020. (Zitierdatum 11.12.2020) aufrufbar unter https://www.public-health- covid19.de/images/2020/Ergebnisse/FactSheet_PHNetwork-Covid19_Aufnahmeeinrichtungen_v1_inkl_ANNEX.pdf.Search in Google Scholar

8. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. SARS-CoV-2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete. Epidemiologische und normativ-rechtliche Aspekte. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. (Zitierdatum 11.12.2020), aufrufbar unter https://www.infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/materialien/sars-cov-2-in-aufnahmeeinrichtungen-und-gemeinschaftsunterkuenften-fuer-gefluechtete/.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2021-03-06
Erschienen im Druck: 2021-03-26

©2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 19.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2020-0131/html
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