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„IKKA-Score zur Vereinheitlichung der Beurteilung des individuellen Risikos durch SARS-CoV-2“

Zum Beitrag von A. Wolfschmidt et al.

In: ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2020; 55: 763–769

(s. auch https://www.asu-arbeitsmedizin.com/praxis/zur-diskussion-gestellt-ikka-…)

A. Kaifie1

K. Romero Starke2

D. Kämpf2

A. Tautz3

G. Petereit-Haack4

P. Angerer5

A. Seidler2

Unter dem Titel „Primärprävention: Score-System zur COVID-19-Risiko-Einschätzung“ berichtet das Deutsche Ärzteblatt mit Datum vom 27.10.2020 über ein kürzlich veröffentlichtes neues Score-System („IKKA-Score“; Wolfschmidt et al. 2020), mit dem bei Erkrankung einer Person an COVID-19 das individuelle Risiko für einen schweren Verlauf besser eingeschätzt werden könne. Der IKKA-Score solle eine Hilfestellung zu einer einheitlichen Risikoabschätzung für Beschäftigte geben und eine Beurteilung der bestehenden beruflichen Einsatzmöglichkeiten erlauben. Gern beteiligen wir uns an der – von der Autorengruppe des IKKA-Scores explizit angeregten – Diskussion des vorgeschlagenen Systems der Risiko-Einschätzung.

In den IKKA-Score gehen vier Parameter ein:

I. das Vorliegen einer Immunsuppression (keine: Score = 0; leicht-mittelgradig: Score = 4; hochgradig: Score = 10);

II. die Krankheitsschwere bestehender Vorerkrankungen (aufgrund einer Einzelfallentscheidung bei Berücksichtigung der Arbeitsmedizinischen Empfehlung (BMAS 2020) eher nicht besonders schutzbedürftig: Score = 0; möglicherweise besonders schutzbedürftig: Score = 4; besonders schutzbedürftig: Score = 10);

III. weitere Risikofaktoren gemäß Robert Koch-Institut (RKI): jeweils Score von 1 pro Risikofaktor;

IV. Alter (<50 Jahre: Score = 0; 50–59 Jahre: Score = 4; ≥60 Jahre: Score = 10).

Wir möchten es ausdrücklich begrüßen, wenn die aktuelle Evidenzlage zu COVID-19-bezogenen Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf in ein einfaches „System“ übersetzt werden kann, das eine Beurteilung der Gefährdungssituation von Beschäftigten auf einheitliche Weise erlaubt. Denn trotz der Handlungshilfen, die unter anderem unsere Publikationen (Kaifie-Pechmann et al. 2020; Seidler et al. 2020 im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19) und die Arbeitsmedizinische Empfehlung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Verfügung stellen, bleiben die medizinischen und betrieblichen Akteure weitgehend auf ihre Beurteilung im Einzelfall gestellt. Sie müssen vor Ort entscheiden, ob das Ansteckungsrisiko am Arbeitsplatz in Verbindung mit dem persönlichen Risiko für einen schwerwiegenden Verlauf aus Perspektive des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vertretbar ist. Gerade in dieser unsicheren Situation steht allerdings zu befürchten, dass ein Score häufig und zum Teil unkritisch angewendet wird, er sich sozusagen „verselbstständigen“ würde. Wir sehen die Gefahr, dass mit diesem Beurteilungssystem über den Ausschluss von Beschäftigten aus bestimmten Tätigkeiten entschieden werden könnte. Auch wenn Beschäftigte ein „Recht auf Selbstschädigung“ haben, das heißt trotz hohen Risikos zur Arbeit kommen können, können auch Unternehmen ihrer Fürsorgepflicht entsprechend Beschäftigte von bestimmten Tätigkeiten ausschließen – gegebenenfalls mit entsprechenden Konsequenzen.

Auf zwei – auch von dem Autorenteam erörterte – Punkte möchten wir etwas näher eingehen:

  • Bei der potenziell hohen Bedeutung des vorgeschlagenen Beurteilungssystems erscheint uns seine theoretische und empirische Begründung besonders wichtig.
  • Aus unserer Sicht sind neben den unmittelbaren gesundheitlichen Folgen einer Anwendung des Beurteilungssystems auch die indirekten (u.a. psychosozialen) Folgen zu berücksichtigen.
  • 1.) Der derzeitige wissenschaftliche Kenntnisstand erlaubt es unseres Erachtens nicht, die Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf mit einer konkreten Zahl („Score“) auszudrücken.

    Dies gilt für die Gewichtung komplexer medizinischer und biologischer Sachverhalte durch ein einfaches dreistufiges Score-System (0/4/10 Score-Punkte – für Immunsuppression, Vorerkrankungen und Alter); für die einfache Addition von Score-Punkten, um die weitgehend unerforschte Interaktion zwischen Immunsuppression, Vorerkrankungen, weiteren Risikofaktoren sowie Alter abzubilden; für die Bewertung des Alters und schließlich für die Einteilung von Arbeitsplätzen in vier Gefährdungsstufen. Die den Score-Werten zugrunde liegenden Risikoschätzer für einen schweren Krankheitsverlauf sollten bestmöglich auf der Grundlage eines – in Zeiten der Corona-Pandemie häufig eingesetzten – systematischen Rapid Reviews erfolgen; mit einem Rapid Review lässt sich eine qualitativ hochwertige Zusammenfassung der aktuellen Evidenzlage in kurzer Zeit erreichen (Garritty et al. 2020).

    Die derzeitige empirische Grundlage reicht unseres Erachtens allerdings nicht aus, um aus Immunsuppression, Vorerkrankungen und weiteren Risikofaktoren einen prädiktiv aussagekräftigen Score zu bilden. Für die ersten drei Bestandteile des Scores (Immunsuppression, Vorerkrankungen, andere Risikofaktoren für einen schweren Verlauf) liegt ein derartiger systematischer (Rapid) Review nicht vor. Es gibt inzwischen zu Vorerkrankungen und Risikofaktoren zwar eine Reihe großer prospektiver Einzelstudien, die auf Basis einer multivariaten Analyse die relative Bedeutung individueller Faktoren herausarbeiten können, aber keine systematische Zusammenführung der zum Teil unterschiedlichen Erkenntnisse. Zudem gibt für die meisten Erkrankungen keine oder lediglich grobe Abstufungen hinsichtlich des Risikos (z.B. erhöhter Blutdruck/diagnostizierte Hypertonie ja/nein, siehe Williamson et al. 2020). Ein Score kann aber naturgemäß nicht genauer sein als die Daten, auf denen er basiert.

    Um den Score durch eine feinere Abstufung der Krankheitsschwere genauer zu machen, verweist die Autorengruppe des IKKA-Scores auf die Arbeitsmedizinische Empfehlung (BMAS 2020) und dort auf die Tabelle auf S. 9ff. Diese Tabelle verbindet Daten aus der wissenschaftlichen Literatur (s.o.) mit einer persönlichen Einschätzung des Autorenteams (Weiler und Koautoren) und nimmt eine Einteilung in die drei Gruppen vor, „besonders schutzbedürftig“, „möglicherweise besonders schutzbedürftig“ und „nicht besonders schutzbedürftig“. Diese Einteilung ist eine Expertenmeinung (Evidenzklasse IV). Sie kann aus unserer Sicht als erste Orientierung oder Checkliste zur Berücksichtigung wesentlicher Erkrankungen dienen. Die grundsätzlich schwache Evidenz einer Expertenmeinung ist aber unseres Erachtens nicht geeignet als Begründung eines Scores, dem prädiktive Kraft als Handlungsgrundlage zugemessen werden soll.

    Die Tabelle stammt aus dem Juni 2020 und ist hinsichtlich der Kategorisierung nach dem Status der Schutzbedürftigkeit nicht aktuell. Beispielsweise wird Adipositas als nicht besonders schutzbedürftig eingeschätzt, obwohl die aktuelle Studienlage die (schwere) Adipositas als unabhängigen Risikofaktor identifiziert. Insbesondere die Studien von Docherty et al. (2020) und Williamson et al. (2020) haben erheblich zu einer neuen Kenntnislage bezüglich der Risikoklassifizierung beigetragen.

    Der Score verweist mit seinem dritten Bestandteil „weitere Komorbiditäten/Risikofaktoren“ auf die Liste des Robert Koch-Instituts. Auch die Vergabe genau eines Punktes für jede Komorbidität/jeden Risikofaktor auf der Liste erscheint fragwürdig; hier wäre ebenfalls eine Übersetzung der Risikofaktoren anhand der Studienlage in konkrete Score-Werte wünschenswert. Nicht zuletzt setzt die Verrechnung der Immunsuppression mit dem Vorliegen von Risikoerkrankungen und Risikofaktoren zu einem Score Wissen zu Interaktionen zwischen den einzelnen Einflussfaktoren voraus, das – soweit aus dem Text erkennbar – bei der Score-Bildung nicht berücksichtigt wurde.

    Zusammengenommen verstärken sich durch die Score-Bildung die vorgenannten Unsicherheiten zum Einfluss dieser Faktoren auf einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf und zu der Interaktion zwischen den Faktoren. Das schwächt aus unserer Sicht den prädiktiven Wert des vorgeschlagenen Scores.

    Aufgrund seines hohen Einflusses auf den Punktewert möchten wir gesondert auf den Einbezug des Alters in die Score-Bildung eingehen. Aus unserer Sicht wird die kategoriale Score-Bildung zum Risiko durch Alter dem eher kontinuierlichen Risikoanstieg nicht gerecht. Von der Autorengruppe werden als Begründung der konkreten Bildung der Punktwerte für das Alter zwei Studien zu den altersbezogenen Risiken für einen schweren Altersverlauf (aus einer inzwischen zweistelligen Zahl von Studien diesbezüglicher Studien) herangezogen (die britische Studie von Docherty et al. 2020 und die südafrikanische Studie von Boulle et al. 2020). Wir können nicht nachvollziehen, warum auf der Grundlage der beiden vorgenannten Studien ein Alter von 50–59 Jahren mit einem Score von 4, ein Alter ab 60 Jahren mit einem Score von 10 belegt wird. Tatsächlich müsste der Score für ein Alter von 50–59 Jahren relativ höher ausfallen. Andererseits ließen sich auf der Grundlage einer systematischen Literaturrecherche (bis zum 15.05.2020) (Romero Starke et al. 2020; ein Update wird aktuell erstellt) auch Studien identifizieren, die im multivariaten Modell einen deutlich geringeren Alterseffekt als die vorgenannten beiden Studien im multivariaten Modell finden (z.B. Guan et al. 2020). Wenn der Alterseffekt in einem Score abgebildet werden soll, erscheint uns eine Übersetzung der Risikohöhen in annähernd „kontinuierliche“ Score-Höhen (0, 1, 2, 3, …) ratsamer als eine Übersetzung in grobe Score-Kategorien (0, 4, 10).

    Wenn es um die Heranziehung des Alters als „Ausschlussgrund“ für bestimmte Tätigkeiten geht, sind zwei weitere Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen ist eine Altersgrenze, bei der eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf anzunehmen ist, empirisch schwer begründbar. Darauf weist die Arbeitsmedizinische Empfehlung zum Umgang mit aufgrund der SARS-CoV-2-Epidemie besonders schutzbedürftigen Beschäftigten hin (BMAS 2020). Diese Arbeitsmedizinische Empfehlung wird dem Parameter II des IKKA-Scores explizit zugrunde gelegt – mit Bezug auf ein „Policy Brief“ (Seidler et al. 2020), das wir im Rahmen des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 erstellt haben. Beispielsweise ist schwer vermittelbar, warum eine Person mit 59 Jahren eine Tätigkeit noch ausüben kann, mit dem Erreichen des 60. Geburtstags aber vermehrt geschützt werden muss. Zum anderen stellt das Alter eine wesentliche und unabwendbare Eigenschaft eines Menschen dar, so dass bei der Definition (rein) altersspezifischer Ausschlusskriterien von bestimmten Arbeitsplätzen besondere Zurückhaltung geboten ist (Seidler et al. 2020; BMAS 2020). Eine altersbedingte Diskriminierung ist zu vermeiden.

    2.) Um die „Fehlanwendung“ eines Systems der individuellen Risikoeinschätzung bestmöglich zu vermeiden, möchten wir – unzweifelhaft in Übereinstimmung mit der Autorengruppe des IKKA-Scores – auf das Primat des Arbeitsschutzes vor einem individuellen Ausschluss von bestimmten Arbeitsplätzen hinweisen.

    Die Einteilung von Tätigkeiten in solche mit geringer, mittlerer, hoher und sehr hoher Gefährdung geht auf die oben genannte Arbeitsmedizinische Empfehlung zurück (BMAS 2020). Ob und in welchem Maße sich diese Tätigkeiten in ihrem Ansteckungsrisiko unterscheiden, lässt sich nur vermuten. Beispielsweise lassen sich gerade im medizinischen Bereich durch sorgfältigen Infektionsschutz Infektionen bei den Beschäftigten unter Umständen besser vermeiden als unter manchen prekären industriellen Produktionsbedingungen. Wenn derzeit davon ausgegangen wird, dass sich die überwiegende Zahl der Ansteckungen nicht nachverfolgen lässt, dann unterstreicht das die Unsicherheit in der Beurteilung des tatsächlich tätigkeitsbezogenen Ansteckungsrisikos. Aus diesem Grunde scheint uns die Einteilung der Tätigkeiten in vier Gefährdungsgruppen nicht trennscharf. Wir (Kaifie-Pechmann et al. 2020) haben alternativ vor längerem eine Zweiteilung vorgeschlagen: in Arbeitsplätze, an denen sich die jeweils empfohlenen beziehungsweise angeordneten Arbeitsschutzmaßnahmen umsetzen und einhalten lassen, und solche, an denen das praktisch schwer möglich ist (z.B. Pflege von Kindern bis drei Jahren, polizeilicher Einsatz mit körperlichem Kontakt etc.). Die Einteilung scheint uns besser begründbar und teilt nur einen kleinen Teil der Tätigkeiten der Gruppe erhöhten Risikos zu.

    Dies unterstreicht auch das – unzweifelhaft auch von der Autorengruppe des Artikels gesehene – Primat des Arbeitsschutzes. Arbeitsplätze sind gemäß dem „STOP-Prinzip“ (Substitution vor technischen vor organisatorischen vor personenbezogenen Maßnahmen) so zu gestalten, dass eine Übertragung des Virus bestmöglich verhindert wird und die Tätigkeiten, bei denen in erhöhtes Risiko angenommen werden muss, auf ein Minimum reduziert werden. Dies ist darüber hinaus für den Infektionsschutz der gesamten Bevölkerung von Bedeutung.

    Im Einklang mit dem Autorenteam des IKKA-Score ist dort, wo ein berufliches Gesundheitsrisiko nicht ausgeschlossen werden kann, grundsätzlich auch der Schutz besonders vulnerabler Gruppen eine arbeitsmedizinisch sinnvolle Vorgehensweise. Aber anders als beispielsweise im Mutterschutz (wo z.B. speziell für Schwangere die Arbeit nach 20 bzw. 22 Uhr nicht mehr zugelassen ist), lassen sich bei der Covid-19-Erkrankung derzeit keine Gruppen berufstätiger Personen definieren, für die ein Risiko nicht besteht und bei denen daher eine Infektion in Kauf genommen werden kann. Es ist nicht auszuschließen, dass ein jüngerer Mensch ohne Komorbiditäten und somit einem niedrigen IKKA-Score auch einen schweren Krankheitsverlauf erleidet. Eine solche Exposition zuzulassen, ist in der Regel weder medizinisch noch ethisch zu begründen. Somit müssen primär alle Anstrengungen unternommen werden, das Infektionsrisiko an allen Arbeitsplätzen zu minimieren.

    Eine Differenzierung des Schutzniveaus in Abhängigkeit von der individuellen Schutzbedürftigkeit könnte in dem Sinne (fehl-)verstanden werden, dass mit dem Ausschluss von Risikopersonen von bestimmten Tätigkeiten und ihrem Schutz durch Zuweisung anderer Tätigkeiten (bzw. durch Freistellung) die Infektionsproblematik dieser Tätigkeiten gelöst sei. Dieser Eindruck sollte aus unserer Sicht vermieden werden.

    Wir können uns der Einschätzung der Autorengruppe des IKKA-Scores nicht vorbehaltlos anschließen, dass „das erarbeitete Score-System … weder soziopolitische noch gesellschaftlich-ethische Überlegungen“ berücksichtigt, sondern auf einer „rein medizinischen Einschätzung“ beruhe. Die sich aus dem IKKA-Score für eine 60-jährige Lehrkraft ergebende Empfehlung „kein Einsatz im Präsenzunterricht empfohlen“ bezieht (wissenschaftlich derzeit nicht hinreichend ableitbare) medizinische Erkenntnisse auf konkrete gesellschaftliche Fragestellungen (nämlich auf die Frage nach dem Erfordernis eines Ausschlusses einer Lehrkraft vom Präsenzunterricht). Diese Frage mit ihren gesellschaftlichen, aber konkret auch auf die betroffene Lehrkraft bezogenen Implikationen kann nicht ausschließlich wissenschaftlich beantwortet werden. In die Beantwortung dieser Frage müssen nicht zuletzt auch Anforderungen an einen erweiterten Arbeitsschutz, Stigmatisierungsaspekte und individuelle medizinische Faktoren (Vorerkrankungen, Risikofaktoren, individuelle Schutzbedürfnisse) eingehen. Wir halten es für wichtig, hier die potenziellen (und finanziell nicht ohne Weiteres abgesicherten) Folgen eines praktischen Einsatzes des Score-Systems (Beschäftigungsverbot? Krankschreibung? Arbeitsplatzverlust?) mit zu bedenken.

    Aus unserer Sicht kann der IKKA-Score nicht die Orientierung vermitteln, die zweifellos in der unübersichtlichen Lage wünschenswert wäre, da seine Aussagen zu wenig empirisch abgesichert sind. Wir halten daher die Anwendung des IKKA-Scores in der derzeitigen Beratungspraxis nicht für ratsam. Es bleibt das Erfordernis von Einzelfalllösungen – und dieses Erfordernis würde selbst bei Vorliegen eines validierten Instruments weiter bestehen: Auch wenn das Beurteilungsinstrument im Sinne einer stärkeren Evidenzbasierung überarbeitet und in einer Längsschnittstudie validiert würde, wären bei seiner Anwendung in der Praxis noch individuelle psychologische und soziale Faktoren mit ins Kalkül zu ziehen, und es wären – angesichts der damit verbundenen noch höheren Komplexität – Einzelfalllösungen zu erarbeiten.

    Literatur

    BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Ausschuss für Arbeitsmedizin: Arbeitsmedizinische Empfehlung zum Umgang mit aufgrund der SARS-CoV-2-Epidemie besonders schutzbedürftigen Beschäftigten. 2020. https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/arbeitsmedizinische… (Zugriff am 1.11.2020).

    Boulle A, Davies M, Hussey H, Ismail M et al.: Risk factors for COVID-19 death in a population cohort study from the Western Cape Province, South Africa. Clin Infect Dis 2020: ciaa1198.

    Docherty AB, Harrison EM, Green CA, Hardwick HE, Pius R, Norman L, Holden KA, Read JM, Dondelinger F, Carson G, Merson L et al.: Features of 20 133 UK patients in hospital with covid-19 using the ISARIC WHO Clinical Characterisation Protocol: prospective observational cohort study. BMJ 2020; 369: m1985.

    Garritty C, Gartlehner G, Nussbaumer-Streit B, King VJ, Hamel C, Kamel C, LA, Stevens A: Cochrane Rapid Reviews Methods Group offers evidence – informed guidance to conduct rapid reviews. J Clin Epidemiol 2021; 130: 13–22.

    Guan WJ, Liang WH, Zhao Y, Liang HR, Chen ZS, Li YM, Liu XQ, Chen RC, Tang CL, Wang T et al.: Comorbidity and its impact on 1590 patients with Covid-19 in China: A Nationwide Analysis. Eur Respir J 2020; 55: 2000547.

    Kaifie-Pechmann A, Tautz A, Angerer P: Beschäftigte mit erhöhtem Krankheitsrisiko. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, 2020.

    Lighter J, Phillips M, Hochman S, Sterling S, Johnson D, Francois F, Stachel A: Obesity in patients younger than 60 years is a risk factor for COVID-19 hospital admission. Clin Infect Dis 2020; 71: 896-897.

    Lilienfeld-Toal M, Giesen N, Greinix H, Hein A, Hirsch HH, Na IK, Sandherr M, Schanz U, Vehreschild JJ, Wörmann B: Coronavirus-Infektion (COVID-19) bei Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen. Version 17.09.2020. Leitlinie Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie.

    Petrilli CM, Jones SA, Yang J, Rajagopalan H, O‘Donnell L, Chernyak Y, Tobin KA, Cerfolio RJ, Francois F, Horwitz LI: Factors associated with hospital admission and critical illness among 5279 people with coronavirus disease 2019 in New York City: prospective cohort study. BMJ 2020; 369: m1966.Robert Koch-Institut. SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). Stand 30.10.2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neu­artiges_Coronavirus/Steckbrief.html).

    Romero Starke K, Petereit-Haack G, Schubert M, Kämpf D, Schliebner A, Hegewald J, Seidler A: The age-related risk of severe outcomes due to COVID-19 Infection: a rapid review, meta-analysis, and meta-regression. Int J Environ Res Public Health 2020; 17: 5974.

    Seidler A, Petereit-Haack G, Riedel-Heller S, Apfelbacher C, Romero-Starke K, Kämpf D, Harth V, Angerer P: Müssen ältere Beschäftigte dem Arbeitsplatz fernbleiben? Kompetenznetzwerk COVID 19 Public Health 2020. https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/2020_04_23_… (Zugriff am 1.11.2020).

    Williamson EJ, Walker AJ, Bhaskaran K, Bacon S, Bates C, Morton CE, Curtis HJ, Mehrkar A, Evans D, Inglesby P et al.: Factors associated with COVID-19-related death using OpenSAFELY. Nature 2020; 584: 430-436.

    Wolfschmidt A, Ochmann U, Nowak D. Drexler H: IKKA-Score zur Vereinheitlichung der Beurteilung des individuellen Risikos durch SARS-CoV-2. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2020; 55: 763–769.

    Kontakt

    Prof. Dr. med. Andreas Seidler, MPH
    Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin
    Technische Universität Dresden
    Medizinische Fakultät
    Fetscherstr. 74 – 01307 Dresden
    andreas.seidler@tu-dresden.de

    Replik der Autoren

    Wir danken der Autorengruppe A. Kaifie et al. für die intensive Auseinandersetzung mit dem IKKA-Score und den ausführlichen Diskussionsbeitrag. Im Sinne der von uns begrüßten wissenschaftlichen Diskussion möchten wir im Folgenden die Gelegenheit nutzen, zu den im Beitrag aufgeführten Punkten Stellung zu nehmen.

  • Wir teilen die Ansicht der Autorengruppe, dass es der derzeitige wissenschaftliche Kenntnisstand nicht erlaubt, die Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf mit einer konkreten Zahl in Gestalt eines Risikoschätzers auszudrücken. Genau aus diesem Grund wurde der Einsatz von Risikoschätzern, wie zum Beispiel relativen Risiken, bei der Konzeption des IKKA-Scores vermieden. Die konkreten Punktwerte sollen in erster Linie eine Zuordnung zu den Gruppen mit keiner erhöhten bzw. leicht, mittelgradig oder stark erhöhten Schutzbedürftigkeit hinsichtlich SARS-CoV-2
    ermöglichen.
  • Es ist ausdrücklich nicht die Intention des Scores, neue maximale Evidenz für jede seiner vier Kategorien zu erzeugen und darzustellen. Stattdessen bedient sich der Score wo immer möglich bereits existenter Empfehlungen und Darstellungen des aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Konsenses (vor allem solcher, von denen auch eine regelmäßige Aktualisierung zu erwarten ist). Daher auch der Bezug auf die Arbeitsmedizinische Empfehlung (AME) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und auf das Robert Koch-Institut (RKI).
  • Die für das Alter vergebenen Punktwerte repräsentieren ebenfalls kein relatives Risiko. Der Score geht auf Basis einer selektiven Literaturrecherche lediglich davon aus, dass für ein Alter ab 50 Jahren eine erhöhte Schutzbedürftigkeit anzunehmen ist und für ein Alter ab 60 Jahren eine stark erhöhte Schutzbedürftigkeit. Eine kontinuierlichere Punkteverteilung, wie von Kaifie et al. vorgeschlagen, ist durchaus diskussionswürdig und ließe sich auch im Rahmen des Scores gut umsetzen. Für die konkrete Ausgestaltung des Altersscores wären die Ergebnisse einer aktuellen systematischen Literaturrecherche, wie von der Arbeitsgruppe Romero-Starke et al. angekündigt, mit Sicherheit sehr
    wertvoll.
  • Uns als Autorenteam ist bewusst, dass es enorme politische und ethische Implikationen birgt, das Alter als starken Risikofaktor in den Score einfließen zu lassen. Dabei ist zu bedenken: Der Score bietet nur eine Hilfestellung, die primäre Entscheidung über das Risiko eines Menschen für einen schweren Verlauf von COVID-19 zu treffen. Diese primäre Entscheidung einer Ärztin oder eines Arztes über das Risiko eines Menschen im Falle einer Erkrankung sollte nicht von gesellschaftlichen oder politischen Überlegungen beeinflusst sein. Wie mit dem festgestellten Risiko und der resultierenden Schutzbedürftigkeit umgegangen wird, ist der nächste Schritt – der selbstverständlich sowohl gesellschaft­liche und politische als auch individuelle psychosoziale Erwägungen erforderlich macht.
  • Die Score-Erhebung an sich ist ebenfalls zunächst einmal völlig unabhängig von den späteren konkreten Einsatzmöglichkeiten einer/eines Beschäftigten zu sehen. Wie die personalverantwortlichen Vorgesetzten der aus dem Score resultierenden Einstufung der Schutzbedürftigkeit Rechnung tragen, ist betriebsspezifisch und muss im Einzelfall auf Basis der Gefährdungsbeurteilung und in Kenntnis der Situation vor Ort entschieden werden. Dies haben wir auch bereits in unserer Publikation dargelegt.
  • Wie Kaifie et al. sind wir der Meinung, dass die Einteilung von Tätigkeiten gemäß der Arbeitsmedizinischen Empfehlung, an die der Score sich anlehnt, nur ein grobes Raster zur Orientierung bieten kann (wie auch explizit in der AME geschrieben). Als eine solche Orientierung war die Anlehnung des Scores an die Einteilung gemäß AME auch gedacht.
  • Der Betonung des Primats des Arbeitsschutzes können wir uneingeschränkt zustimmen. Auch darauf haben wir bereits in unserer Publikation hingewiesen. Im ersten Schritt muss eine Optimierung der Arbeitsschutzmaßnahmen gemäß dem „STOP-Prinzip“ für alle Beschäftigten erfolgen. Da jedoch – wie auch Kaifie et al. schreiben – ein berufliches Gesundheitsrisiko (hier konkret das Risiko einer Infektion mit SARS-CoV-2) nicht in jedem Fall und an jedem Arbeitsplatz ausgeschlossen werden kann, ergibt sich unseres Erachtens die Notwendigkeit, besonders vulnerable Gruppen mit erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf auch besonders zu schützen. Der IKKA-Score soll eine Hilfestellung bieten, diese hinsichtlich SARS-CoV-2 vulnerablen Gruppen vergleichbar zu identifizieren. Der Score ist selbstverständlich nicht dazu zu missbrauchen, eine Reduktion von Schutzmaßnahmen für bestimmte Personengruppen unter die gültigen Arbeitsschutzstandards zu begründen.
  • Kaifie et al. weisen abschließend auf die aktuell „unübersichtliche Lage“ hinsichtlich der Beurteilung des individuellen Risikos durch SARS-CoV-2 hin. Dies ist bei einer neu aufgetretenen Erkrankung auch nicht anders zu erwarten. Es besteht hierbei immer die Problematik der divergierenden Beurteilungen in einer extrem dynamischen Pandemiesituation, in der sich die verfügbare Literatur quasi täglich ändert. Genau aufgrund dieser unübersichtlichen Lage erschien uns eine Hilfestellung zur Vereinheitlichung der Beurteilung dringend erforderlich.

    Das Instrument „Score“ soll eine Brücke bauen zwischen den behandelnden Haus- und Fachärztinnen und -ärzten, die zwar Sachverständige für die Erkrankungen ihrer Patientinnen und Patienten sind, aber den Arbeitsplatz nicht kennen und in der Regel nicht mit Arbeitsmedizinischen Empfehlungen vertraut sind, und den Betrieben beziehungsweise Betriebsärztinnen und -ärzten, die zwar Expertise für den Arbeitsplatz besitzen, aber den exakten Gesundheitszustand mit allen Vorerkrankungen der Beschäftigten nicht immer kennen und auch nicht davon ausgehen dürfen, dass dieser ihnen offengelegt wird.

    Kaifie et al. sind der Meinung, der Score könne nicht die wünschenswerte Orientierung vermitteln, liefern jedoch keinen alternativen Vorschlag, wie Risikogruppen vergleichbar abgegrenzt werden könnten. Ohne Hilfestellung zur Vereinheitlichung beurteilt jede Ärztin und jeder Arzt nach individuellem Ermessen das Risiko, und das mit unterschiedlichem Grad der Evidenzbasierung angesichts des immensen Zeitaufwands, den eine Einarbeitung in die entsprechende Literatur fordert. Ärztinnen und Ärzte, die als Hilfestellung den IKKA-Score nutzen, betrachten ebenfalls den Einzelfall, werten Risikofaktoren und deren Kombinationen, und treffen dann eine Entscheidung – das aber einheitlich auf Basis des aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisstandes.

    Eine Hilfestellung wie der IKKA-Score muss selbstverständlich regelmäßig an den neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand angepasst werden und beruht im Idealfall auf einem möglichst breiten Konsens. Uns als Autorenteam des IKKA-Scores ist sehr wohl bewusst, dass es derzeit keine wissenschaftlich valide Risikobeurteilung geben kann, da die Evidenzbasierung einer solchen aktuell kaum möglich ist. Aus diesem Grund jedoch keine Hilfestellung anzubieten – und stattdessen stark divergierende Risikobeurteilungen oder gar die Verweigerung von Risikobeurteilungen in Kauf zu nehmen – erscheint uns als der falsche Weg.

    A. Wolfschmidt
    U. Ochmann
    D. Nowak
    H. Drexler