Falldarstellung

Anamnese und klinischer Befund

Ende März 2020 stellte sich ein 59-jähriger männlicher Patient aufgrund grippaler Symptome sowie Erstdiagnose von typischem Vorhofflattern in unserer Notaufnahme vor. Er berichtete über Fieber, Gliederschmerzen, Schüttelfrost, trockenen Husten, Abgeschlagenheit sowie Palpitationen seit 5 Tagen. Luftnot wurde verneint. Als Vorerkrankungen bestanden eine arterielle Hypertonie und ein Glaukom (jeweils ohne Medikation), der BMI betrug 26,3 kg/m2 (188 cm, 93 kg), keine Raucheranamnese, keine Allergien. Die periphere Sauerstoffsättigung lag bei 94 % unter Raumluft. Laborchemisch waren die Lymphozyten und die Thrombozyten diskret erniedrigt, und es lag eine leichte Entzündungskonstellation vor (Tab. 1). Die Temperatur war erhöht (38,3 °C), woraufhin 2 Paar periphere Blutkulturen entnommen wurden. Die RSV- und Influenza-PCR waren im Rachenabstrich negativ; eine Legionellose wurde mittels Urinschnelltest ausgeschlossen.

Tab. 1 Verlauf der Labor- und Beatmungsparameter sowie wichtige Ereignisse von der stationären Aufnahme (Tag 1) bis zum Versterben des Patienten (Tag 12). Relevante Veränderungen sind fett markiert. ITS Intensivstation. k kilo (Tausend). TCZ Tocilizumab. Laufrate von Noradrenalin in Milliliter pro Stunde

Diagnose

Nach Erhalt des positiven Rachenabstrichs auf SARS-CoV‑2 (PCR) sowie der Computertomographie (CT) des Thorax mit typischem Befund (Abb. 1a) wurde die Diagnose COVID-19 mit atypischer bipulmonaler Pneumonie gestellt, und es erfolgten die stationäre Aufnahme und Einleitung einer Therapie nach hausinterner „Standard operating procedure“ („Off-label“-Einsatz von Hydroxychloroquin und Azithromycin über 10 Tage). Die QTc-Zeit wurde täglich kontrolliert.

Abb. 1
figure 1

a CT-Thorax am Tag der stationären Aufnahme mit bilateralen, peripher gelegenen Milchglastrübungen. b Deutlicher Progress am Tag 6 mit überwiegend konsolidierten Infiltraten in allen Lungenlappen

Therapie und Verlauf

In den folgenden Tagen verschlechterte sich der Allgemeinzustand sichtbar, das Fieber, die Entzündungsparameter und der Sauerstoffbedarf stiegen kontinuierlich an. Im Verlaufs-CT am Tag 6 wurde ein deutlicher Progress beschrieben (Abb. 1b), sodass die Übernahme auf die Intensivstation veranlasst wurde. Aufgrund der hypoxämischen respiratorischen Insuffizienz begannen wir eine nasale High-flow-Therapie (niedriger Fluss und hohe FIO2 zur Minimierung der Aerosolbildung). Bei ausbleibender substanzieller Besserung wurde eine Intubationsnarkose zur druckkontrollierten Beatmung eingeleitet, die sich bei erhaltener Lungen-Compliance zunächst problemlos gestaltete (AF 14/min, FIO2 45 %, PEEP 12 mbar, ∆P 8 mbar).

Als sich am Tag 10 eine Verschlechterung der Oxygenierung bemerkbar machte (FIO2 60 %, PEEP 14 mbar) und die Gabe von Noradrenalin notwendig wurde, vermuteten wir bei nur gering erhöhtem PCT-Wert, persistierendem Fieber >39 °C und kontinuierlich ansteigenden Inflammationsparametern einen Zytokinsturm. Daher stellten wir die Indikation zur Gabe von Tocilizumab (TCZ; RoActemra®, Fa. Hoffmann-La Roche, Basel, Schweiz), das nach Aufklärung der Ehefrau über den „Off-label“-Einsatz und die damit verbundene Risiken in einer Dosis von 600 mg i.v. verabreicht wurde. Parallel initiierten wir eine antibiotische Therapie mit Piperacillin/Tazobactam. Im Anschluss kam es jedoch zu einer weiteren respiratorischen Verschlechterung mit Notwendigkeit zur Bauchlagerung (Horowitz-Index <150 mm Hg). Die erste Laborkontrolle am Abend zeigte einen dramatischen Anstieg des Interleukin(IL)-6 und der D‑Dimere. Am Folgetag stieg der Noradrenalinbedarf weiter, und es entwickelte sich zusätzlich eine Hyperkapnie, die durch eine lungenprotektive Beatmung nicht beherrschbar war (paCO2 96 mm Hg, AF 26/min, FIO2 60 %, PEEP 16 mbar, ∆P 22 mbar). Eine TCZ-Wiederholungsdosis (600 mg) wurde appliziert. Wir entschieden uns zur Anlage einer venovenösen ECMO (Novalung, XLung®, Fa. Xenios AG, Heilbronn), woraufhin die Beatmung nach Normalisierung der Blutgase deeskaliert werden konnte (FIO2 50 %, AF 12/min, PEEP 12 mbar, ∆P 12 mbar). Direkt nach Implantation traten jedoch gehäuft hämodynamisch relevante ventrikuläre Extrasystolen (VES) und nichtanhaltende Kammertachykardien (VT) auf, die auch nach Rückzug der femoralen Kanüle und unter Amiodarontherapie persistierten. Zeitgleich stieg das Lactat stark an. Am Morgen des 12. Tages erhöhte sich das Troponin explosionsartig auf fast 580.000 pg/nl; die Kontrollechokardiographie zeigte weiterhin eine gute linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LV-EF); der rechte Ventrikel war nicht dilatiert. Gegen Mittag fiel der systolische Blutdruck trotz hoher Noradrenalindosis (20 mg/50 ml auf 15 ml/h) auf 50 mmHg ab, im 12-Kanal-EKG imponierten nun ST-Strecken-Hebungen in allen Ableitungen (Abb. 2b). Auf einen Transport in das Herzkatheterlabor wurde aufgrund der hämodynamischen Instabilität verzichtet, und wir entschieden uns zur bettseitigen Umkanülierung auf eine venoarterielle ECMO. Trotz dieser Maßnahmen verstarb der Patient am selben Abend im Multiorganversagen.

Abb. 2
figure 2

a EKG am Aufnahmetag ohne Erregungsrückbildungsstörungen. b Ubiquitäre ST-Hebungen und multiple VES am Tag 12. (Extremitätenableitungen hier nicht dargestellt)

Diskussion

Ab Ende Dezember 2019 wurde zuerst in Wuhan (China) und später weltweit das gehäufte Auftreten der neuartigen Infektionskrankheit COVID-19 beobachtet, die durch das Coronavirus SARS-CoV‑2 ausgelöst wird. Zu Beginn dieser Infektion stehen die Virusreplikation im oberen Atemtrakt und ein damit verbundener, direkt zytopathischer Effekt des Erregers im Vordergrund. Für die spätere, schwere Erkrankungsphase mit ARDS wird eine dysregulierte Immunantwort verantwortlich gemacht [11]. Die unkontrollierte Aktivierung von Immunzellen erinnert klinisch und laborchemisch an Zytokinfreisetzungssyndrome (CRS) wie die sekundäre hämophagozytische Lymphohistiozytose oder das CRS als Komplikation der CAR-T-Zelltherapie. Im Gegensatz zu diesen Erkrankungen mit eher generalisierter Manifestation konzentriert sich die Immunpathologie bei COVID-19 stärker auf die Lunge, z. B. durch eine Überaktivität von Alveolarzellmakrophagen [3]. Ein hoher IL-6-Wert wurde als prognostischer Marker für einen schweren COVID-19-Verlauf identifiziert [15] und trägt wohl wesentlich zu der Entstehung des CRS bei. Indes wird postuliert, dass hohe IL-6-Spiegel im Krankheitsverlauf auch günstige Effekte vermitteln können, die z. B. durch eine bessere virale Clearance erklärt werden [11].

Derzeit konnte lediglich für die Substanzen Dexamethason und Remdesivir der Nachweis einer relevanten Wirksamkeit in der Therapie von COVID-19 erbracht werden [2, 4]. Als weitere hoffnungsvolle Substanz gilt der IL-6-Rezeptor-Blocker TCZ, der bereits in der Frühphase der Pandemie bei 21 Patienten (Einmalgabe von 400 mg) eingesetzt wurde, um die überschießende Zytokinantwort des Wirts zu unterdrücken und so in einer retrospektiven Auswertung eine klinische und radiologische Besserung herbeigeführt hat [17]. Eine weitere monozentrische Analyse von 15 mit TCZ behandelten Patienten zeigte ebenfalls überwiegend positive Resultate [9]. Nachfolgend wurden mindestens 10 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) initiiert, deren Ergebnisse noch ausstehen. Chinesischen Handlungsempfehlungen (Stand April 2020) zufolge können 2 Gaben (jeweils 4–8 mg/kgKG) bei COVID-19 mit ausgedehntem Lungenschaden und erhöhten IL-6-Spiegeln erwogen werden. TCZ ist als monoklonaler, humanisierter Antikörper gegen den IL-6-Rezeptor bei hochinflammatorischen Systemerkrankungen wie z. B. rheumatoider Arthritis oder dem CRS bei CAR-T-Zelltherapie zugelassen. Durch Hemmung des IL-6-Signals wird ein zentrales proinflammatorisches Zytokin inhibiert und eine Normalisierung der nachgeschalteten Entzündungswerte erreicht. Die Therapie wird meist gut vertragen, und berichtete Nebenwirkungen verlaufen in der Regel milde (vornehmlich erhöhte Transaminasen, Hyperlipidämie, Neutropenie, Diarrhö und Infektionen wie Divertikulitis) [12]. Im Hinblick auf eine Therapieeinleitung bei COVID-19 ist die Abgrenzung einer aktiven viralen Pneumonie von dem nachfolgenden immunologisch getriggerten Zytokinsturm von immenser Bedeutung, da im ersten Fall die medikamentöse Inhibition von IL‑6 schädliche Effekte vermitteln kann. Die klinische Unterscheidung ist durch Überlagerungen beider Entitäten jedoch ausgesprochen schwierig. Zusätzlich können auch externe Faktoren wie z. B. die mechanische Ventilation alleine bereits zu einem Anstieg inflammatorischer Zytokine führen. In dem hier geschilderten Fall lag unserer Einschätzung nach ein Zytokinsturm aufgrund folgender Befunde vor: ARDS, Hypotonie, sequenzielle Blutkulturen ohne Keimnachweis, Persistenz des hohen Fiebers, starker CRP-, Ferritin- und IL-6-Anstieg bei normwertigem PCT. Daher wurde eine TCZ-Dosis von 600 mg (entspricht 6,5 mg/kgKG) mit einer optionalen Wiederholungsgabe festgelegt.

Die erste Laborkontrolle wenige Stunden nach Applikation zeigte einen enormen Anstieg des IL-6-Spiegels, was allerdings bei anderen Krankheitsbildern regelhaft aufgrund einer verminderten IL-6-Clearance durch den TCZ/IL-6-Rezeptor-Komplex beobachtet wird. Er entspricht also nicht einer kompensatorischen Steigerung, sondern spiegelt eher die wahre Krankheitsaktivität wider [13]. Zusätzlich fiel ein explosionsartiger Anstieg der D‑Dimere und Fibrinmonomere als Hinweis auf eine Gerinnungsaktivierung auf. Das Vollbild einer DIC lag nicht vor (3 Punkte im DIC-Score nach ISTH). Generell weist ein relevanter Anteil der COVID-19-Patienten bereits in frühen Stadien eine Koagulopathie mit erhöhten D‑Dimeren und Fibrinogenspaltprodukten auf (was mit einer schlechteren Prognose assoziiert ist), und thrombembolische Komplikationen werden häufig beschrieben [7]. Der Zusammenhang von Hyperinflammation und Koagulopathie ist bei der Sepsis gut erforscht und wird auch für COVID-19 angenommen. In der klinischen Untersuchung konnten im vorliegenden Fall weder eine tiefe Beinvenenthrombose noch eine Lungenarterienembolie oder ein arterieller Gefäßverschluss als Ursache festgestellt werden. Möglich erscheinen die Ausbildung von Thromben in der pulmonalen Endstrombahn im Sinne einer pulmonal begrenzten Koagulopathie und eine dadurch bedingte respiratorische Verschlechterung [1, 10]. Die Gabe von Enoxaparin 40 mg/Tag zur Thromboseprophylaxe wurde dennoch beibehalten. Unter Würdigung der aktuellen Literatur würden wir heute in einem solchen Fall eine therapeutische Antikoagulation favorisieren (z. B. unfraktioniertes Heparin i. v. mit Ziel-PTT 60–80 s).

Direkt im Anschluss an die zweite TCZ-Gabe entwickelten sich ein schwerer Kreislaufschock und ausgeprägte Herzrhythmusstörungen, am Folgetag kam es zu einem exorbitanten Troponinanstieg sowie ubiquitären ST-Hebungen. Herzrhythmusstörungen und Troponinerhöhung treten bei schwerem COVID-19-Verlauf gehäuft auf (VT/VF in bis zu 6 % der Fälle) und sind mit einer Prognoseverschlechterung vergesellschaftet [8]. Der genaue Mechanismus der Myokardschädigung ist unbekannt. Mehrfach wurden Patienten mit reduzierter LV-EF bei COVID-19-assoziierter Myokarditis beschrieben, die nach immunsuppressiver Therapie wieder eine gute LV-EF aufwiesen [5, 6], was auf eine kausale Verbindung zur Hyperinflammation hinweist, wie sie bereits für Myokarditiden während der H1N1-Pandemie nachgewiesen wurde [16]. Daher stellten wir die Diagnose einer COVID-19-assoziierten inflammatorischen Perimyokarditis.

Schlussendlich beschreibt der vorliegende Fall einen tödlichen COVID-19-Krankheitsverlauf mit pulmonalen, hämostaseologischen und kardialen Komplikationen. Eine klare Unterscheidung, ob dieser foudroyante Verlauf trotz TCZ-Therapie auftrat oder die Medikamentengabe selbst schadhaft war, war für uns abschließend nicht möglich: Die direkte zeitliche Assoziation der Medikamentenapplikation und der Komplikationen lässt einen kausalen Zusammenhang allerdings vermuten. Zwar war eine solch rapide Verschlechterung nach TCZ-Gabe zum Zeitpunkt der Therapieeinleitung in der Literatur nicht beschrieben, jedoch wurden wenige Wochen später 2 Fälle aus den USA publiziert, die starke Ähnlichkeit zu diesem Kasus aufwiesen: Beide Patienten verschlechterten sich unmittelbar nach TCZ-Gabe und verstarben rasch; einer der Patienten entwickelte ebenfalls eine Myokarditis [14]. Die Autoren führten die deletären Verläufe auf das Medikament zurück. Der Erklärungsansatz konzentriert sich auf die Rolle der CD8+-zytotoxischen T‑Zellen, für deren Ausreifung IL‑6 notwendig ist, sodass eine (zu) frühe IL-6-Rezeptor-Blockade die immunologische Antwort und damit die Virus-Clearance abschwächt [18]. Die Gabe von TCZ zu einem ungünstigen Zeitpunkt könnte somit die Erkrankung negativ beeinflussen und zu einer Symptomexazerbation führen. Derzeit veröffentliche Fallberichte sind lediglich als hypothesengenerierend zu betrachten, und ein definitiver Beweis für diesen Zusammenhang steht derzeit noch aus. Umso mehr werden die Ergebnisse laufender RCT zur Behandlung von COVID-19 mit IL-6-Rezeptor-Antagonisten mit Spannung erwartet, v. a. im Hinblick auf Nebenwirkungen, Dosierung, Patientenselektion und optimalen Zeitpunkt zur Therapieeinleitung. Bis dahin sollte die „Off-label“-Gabe von TCZ nur nach kritischer Indikationsstellung und expliziter Aufklärung über mögliche deletäre Komplikationen erwogen werden.

Fazit für die Praxis

  • ARDS, septischer Schock, thrombembolische und kardiale Komplikationen sind für schwere COVID-19-Verläufe verantwortlich und mutmaßlich durch eine dysregulierte Immunantwort bedingt (Zytokinsturm).

  • Der IL-6-Rezeptor-Blocker Tocilizumab gilt als hoffnungsvolle Therapieoption zur Behandlung des Zytokinsturms.

  • Eine rapide Verschlechterung der Erkrankung durch Tocilizumab ist allerdings nach unseren Erfahrungen möglich.

  • Randomisierte kontrollierte Studien sind notwendig, um die Wirksamkeit, das Nebenwirkungsprofil, den optimalen Zeitpunkt und die richtige Patientenselektion für den Einsatz von Tocilizumab bei COVID-19 zu erforschen.