Liebe Leserinnen und Leser,

seit mehr als einem Jahr hält das neue Coronavirus SARS-CoV‑2 unsere Welt in Atem. Die Pandemie hat alle unsere Lebensbereiche erfasst und medizinische Versorgungsstrukturen weltweit an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Angesichts unzureichender therapeutischer Optionen ruhte die Hoffnung schon früh auf der Entwicklung schützender Impfstoffe. Und tatsächlich ist es in einer einmaligen gemeinsamen Anstrengung von forschender pharmazeutischer Industrie, Gesundheitspolitik und staatlicher Förderung gelungen, in weniger als 12 Monaten wirksame Impfstoffe, insbesondere gegen schwere Verläufe der SARS-CoV-2-Infektion (COVID-19), zur (bedingten) Zulassung zu bringen. Entwicklungsprogramme, die normalerweise 5 bis 10 Jahre in Anspruch nehmen, wurden auf wenige Monate komprimiert und neue Technologien wie mRNA(messenger Ribonukleinsäure)-Vakzine oder vektorbasierte DNA(Desoxyribonukleinsäure)-Vakzine mit „warp speed“ zur Anwendungsreife geführt. Die Ergebnisse sind beeindruckend; alle bisher zugelassenen Impfstoffe sind ausreichend gut verträglich und zeigen eine gute Wirksamkeit.

Niemand konnte/durfte erwarten, dass mit dem Tag der Zulassung genügend Impfstoffdosen zur Verfügung stehen würden, um in kurzer Zeit die gesamte (Welt‑)Bevölkerung zu impfen. Eine Priorisierung auf diejenigen, die am stärksten von einem frühen Impfschutz profitieren, war mithin unumgänglich. Unbestritten liegt die höchste Belastung durch schwere Verläufe von COVID-19, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle eindeutig bei älteren Erwachsenen und Menschen mit erhöhten Krankheitsrisiken infolge chronischer Grundkrankheiten. Insofern ist die Entscheidung, bei begrenzter Impfstoffverfügbarkeit diese Alters- und Indikationsgruppe bevorzugt zu impfen, nachvollziehbar und gerechtfertigt. Dennoch stellt sich die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen auch Kinder und Jugendliche prioritär im Rahmen eines nationalen Impfprogramms geimpft werden sollten.

Selbstverständlich werden COVID-19-Impfstoffe auch für Kinder und Jugendliche benötigt. Aber unter welchen Voraussetzungen können bzw. dürfen sie tatsächlich in diesen Altersgruppen eingesetzt werden? Grundsätzlich gelten hier die gleichen Kriterien wie für alle anderen Impfstoffe: Die gesundheitlichen Vorteile der Impfung müssen mögliche Risiken der Maßnahme deutlich überwiegen. Es geht also um grundlegende Fragen nach der Sicherheit und Wirksamkeit einer Impfung, die letztlich immer erst durch sorgfältig durchgeführte klinische Studien für die entsprechenden Altersgruppen beantwortet werden können.

Aktuell ist unser Wissen über die Verträglichkeit und Sicherheit der neuen COVID-19-Impfstoffe im Kindes- und Jugendalter immer noch begrenzt. Kontrollierte Studien sind gerade erst für Jugendliche ab dem Alter von 12 Jahren initiiert worden, und Erkenntnisse können wahrscheinlich in der zweiten Hälfte dieses Jahres erwartet werden. Den Beginn von Studien ab dem Kleinkindalter haben Impfstoffhersteller ebenfalls für die zweite Jahreshälfte angekündigt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind für den Einsatz von COVID-Impfstoffen im Kindesalter essenzielle Voraussetzung. Weder mRNA-Impfstoffe noch vektorbasierte Impfstoffe sind in der Vergangenheit bei Kindern untersucht oder gar geprüft worden. Im Erwachsenenalter weisen COVID-19-Impfstoffe bei jüngeren Menschen eine deutlich ausgeprägtere Reaktogenität auf als bei Senioren, und es ist unbekannt, ob dieser Trend sich in das Kindes- und Jugendalter fortsetzt. Möglicherweise ist eine Dosisanpassung erforderlich, sowohl im Hinblick auf Reaktogenität wie auch auf Wirksamkeit der Impfstoffe.

Welche Impfziele können überhaupt mit COVID-19-Impfstoffen bei Kindern und Jugendlichen erreicht werden?

An erster Stelle steht der individuelle Schutz vor Infektion und Infektionskrankheit. Im Vergleich zu Erwachsenen erkranken Kinder nach bisherigen Erkenntnissen allerdings meist weniger schwer und haben eine deutlich bessere Prognose. Seit Dezember 2019 sind weltweit mehr als 117 Mio. Menschen (Stand 10.03.2021) an COVID-19 erkrankt. Mit weniger als 1 % der Fälle sind Kinder und Jugendliche insgesamt deutlich seltener als Erwachsene betroffen [1, 2]. Todesfälle treten im Zusammenhang mit COVID-19 im Kindesalter nur sehr selten auf, meist infolge eines pädiatrischen entzündlichen Multisystemsyndroms (PIMS). Die für das pädiatrische Kollektiv errechnete Letalität ist mit 0,0018 % niedrig [3], wobei die Datengrundlage für die Berechnung möglicherweise noch unzureichend ist. Für Deutschland wurden im Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) in den letzten 12 Monaten bei 1007 stationär versorgten Kindern 3 Todesfälle erfasst (https://dgpi.de/covid-19). Infektionsepidemiologische Studien weisen zudem darauf hin, dass Kinder aufgrund der meist asymptomatischen oder nur milde ausgeprägten Krankheitsverläufe kaum zur Ausbreitung von SARS-CoV‑2 beitragen. Angesichts dieser Zahlen erscheint ein allgemeines Impfprogramm für Kinder vor Abschluss der sorgfältigen Prüfung der Impfstoffe nicht zwingend erforderlich.

Anders verhält es sich bei Kindern mit zusätzlichen Risiken, also Grunderkrankungen, die einen komplizierten Verlauf der Infektion begünstigen können. Wie im Erwachsenenalter ist zu erwarten, dass diese Kinder von einem frühen Impfstoffeinsatz profitieren. Obwohl die Überlegung gerechtfertigt ist, zeigen die Infektionsstatistiken allerdings bisher keine erhöhte COVID-19-Morbidität von Kindern mit Grunderkrankungen. Dafür könnte aber auch der generelle Lockdown mit Schließung von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen mitverantwortlich sein. Allein durch konsequente Hygienemaßnahmen wird das Risiko einer Exposition gegenüber SARS-CoV‑2 natürlich auch für Kinder mit chronischen Krankheiten deutlich verringert.

In Anbetracht der noch fehlenden Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit von SARS-CoV-2-Impfstoffen bei Kindern und der bislang niedrigen Morbidität auch in pädiatrischen Risikopopulationen erscheint ein Off-label-Einsatz der heute verfügbaren Impfstoffe gegenwärtig nicht gerechtfertigt. Dass eine sorgfältige klinische Prüfung in der pädiatrischen Population nicht vernachlässigt werden darf, hat die Erfahrung mit dem Auftreten von Narkolepsie nach Impfung von pandemischen Influenzaimpfstoffen 2009 gezeigt. Bis zur regelrechten Zulassung von Impfstoffen für Kinder steht als wirksame Alternative schon heute eine konsequente Kokonstrategie durch Impfung der Familienangehörigen und Betreuungspersonen zur Verfügung.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Entwicklung und Prüfung von COVID-19-Impfstoffen für Kinder und Jugendliche wichtig ist und zeitnah erfolgen muss. Insbesondere für Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und erhöhten Infektionsrisiken werden COVID-19-Impfstoffe dringend benötigt. Ob zukünftig die Impfung aller Kinder sinnvoll ist, um die Übertragung der SARS CoV‑2 zu reduzieren und Herdenschutz zu fördern, muss erst durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Dazu gehören die Rolle von Kindern bei der Übertragung sowie die Sicherheit, Wirksamkeit und Schutzdauer der verfügbaren Impfstoffe in diesen Altersgruppen. Vor allem wird es auch davon abhängen, ob COVID-19-Impfstoffe tatsächlich dazu beitragen, die Virusübertragung zu unterbrechen und dadurch einen indirekten (Herden‑)Schutz für die Bevölkerung unterstützen.