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Publicly Available Published by De Gruyter September 8, 2020

„Health in All Policies“ und gesundheitliche Chancengleichheit: COVID-19 als Fallstudie

“Health in All Policies” and health equity: the COVID-19 pandemic as a case study
  • Nico Dragano EMAIL logo and Arne Conte
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Im Beitrag wird eine erste Analyse des Umgangs mit gesundheitlicher Chancengleichheit bzw. Ungleichheit während der COVID-19 Pandemie im Frühjahr 2020 in Deutschland vorgenommen, um Rückschlüsse auf den allgemeinen Stand von HiAP-Ansätzen zur Thematik der Chancengleichheit zu ziehen. Teile der Maßnahmen deckten sich prinzipiell mit den HiAP-Ideen, eine übergeordnete Strategie zur Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit ist jedoch in der betrachteten Zeit nicht auszumachen.

Abstract

In this article we discuss if the German public health response to the COVID-19 pandemic in the first months of 2020 included a strategic focus on health equity. This preliminary evaluation is taken as a case study to rate the overall state of Health in All Policies for health equity in the country. Some ideas of HiAP were present in the actual response to the pandemic but a coherent strategy to improve health equity was not present.

Einleitung

Der gesellschaftliche Umgang mit der COVID-19 Pandemie im Frühjahr 2020 in Deutschland ist in vielerlei Hinsicht lehrreich. Unter anderem wurde angesichts der Unsicherheit und dem Zeitdruck unter denen Entscheidungen getroffen werden mussten, sichtbar, wie die bestehenden Public-Health-Systeme unter Krisenbedingungen funktionieren. Eine Analyse dieses Ereignisses kann helfen, generelle Defizite zu identifizieren und für die Zukunft zu beseitigen. Im Vordergrund dieses Beitrags steht der Umgang mit gesundheitlicher Chancengleichheit bzw. Ungleichheit während der COVID-19 Pandemie und den Schlüssen, die man daraus für den allgemeinen Stand eines umfassenden „Health in All Policies“ (HiAP) zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit in Deutschland ziehen kann. Bevor wir jedoch zur eigentlichen Bewertung kommen (die ernüchternd ausfällt), soll zunächst das Phänomen der gesundheitlichen Ungleichheit im Allgemeinen und im Kontext von COVID-19 skizziert werden.

Konzept der gesundheitlichen Chancengleichheit bzw. Ungleichheit

Als gesundheitliche Ungleichheit wird die seit langem bekannte Tatsache bezeichnet, dass Menschen alleine aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bessere oder schlechtere Chancen auf ein Leben in Gesundheit haben [1]. Geknüpft an zentrale soziodemographische Merkmale (z.B. Alter, Geschlecht, soziale Stellung) führen vermittelnde Mechanismen dazu, dass Menschen, die den jeweiligen Gruppen angehören systematisch mehr oder weniger gesundheitsrelevante Ressourcen erhalten bzw. Risiken ausgesetzt sind. Vermittelnde Mechanismen sind beispielsweise Bildungschancen, Einkommensverteilung oder soziale Rollenzuschreibungen. Die einzelnen gesundheitsbezogenen Ressourcen und Risiken eines Individuums sind wiederum stark an soziale Kontexte gebunden, z.B. die Qualität der Wohn- und Arbeitsbedingungen, Zugang zu ausreichender und gesunder Nahrung oder zu medizinischer Versorgung. Sie werden daher auch als soziale Determinanten der Gesundheit bezeichnet. Das sichtbare Korrelat der genannten Prozesse sind die empirisch nachweisbaren ungleichen Erkrankungs- und Mortalitätsrisiken entlang soziodemographischer Merkmale. Dieses Muster bedeutet, dass mit einer sinkenden sozio-ökonomischen Position (z.B. niedriges Einkommen) Erkrankungs- und Sterblichkeitsrisiken zunehmen [2], [3].

Gesundheitliche Ungleichheiten in der COVID-19 Pandemie

Bereits vor der SARS-CoV-2 Pandemie war bekannt, dass auch Infektionskrankheiten eine soziale Komponente haben [4]. Menschen mit geringen Ressourcen fällt es zum einen schwerer Infektionsschutzmaßnahmen einzuhalten, sei es, weil sie gezwungen sind trotz Infektionsgefährdung weiter zu arbeiten oder weil sie bestimmte Schutzmaßnahmen nicht finanzieren können. Zum anderen ist ihre Suszeptibilität erhöht, da sie häufiger Vorerkrankungen aufweisen (s.o.), schlechteren Zugang zu Versorgung haben oder aufgrund von chronischen Stressbelastungen immungeschwächt sind. Kurz: auch bei Infektionskrankheiten führt eine ungleiche Verteilung der sozialen Determinanten zu ungleichen Gesundheitschancen. Erste empirische Befunde legen nahe, dass dieser Effekt auch bei COVID-19 aufgetreten ist [5], [6], [7]. Studien aus Großbritannien berichten beispielsweise von höheren Infektionsraten bei Menschen mit niedriger Bildung [8] und von höheren COVID-19 Hospitalisierungsraten bei Menschen mit geringem Einkommen [9]. Hinzu kommt, dass auch die indirekten gesundheitlichen Folgen der Maßnahmen des Infektionsschutzes sozial ungleich verteilt sein dürften [10]. Dies gilt sowohl für kurzfristigere Folgen, etwa eine psychische Belastung durch Quarantäne-Maßnahmen als auch längerfristige gesundheitliche Folgen, die z.B. im Zuge einer wirtschaftlichen Krise auftreten können [11].

HiAP während der COVID-19 Pandemie

Angesichts der Komplexität der Prozesse denen gesundheitliche Ungleichheiten zugrunde liegen, ist gesundheitliche Chancengleichheit ein klassisches Anwendungsfeld für einen HiAP Ansatz [12]. Die Idee von HiAP ist, dass durch intersektorales Handeln in allen Politikfeldern die sozialen Determinanten der Gesundheit in der Breite positiv beeinflusst werden und so die Gesundheit aller verbessert wird. Alleinstehend für sich garantiert dies jedoch nicht die Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit [13]. Beispielsweise bedeutet eine Berücksichtigung von Gesundheitsfragen in der Umweltpolitik noch nicht, dass auch die ungleiche Verteilung von umweltbezogenen Risiken reduziert wird. Vielmehr müssen strategisches Handeln und eine strukturelle Vernetzung der Akteure mit dem Ziel einer Reduktion von gesundheitlichen Ungleichheiten erfolgen [13]. Zum einen muss hierfür gesundheitliche Chancengleichheit im Sinne eines strategischen Ziels nationaler (und übernationaler) Politik explizit formuliert werden. Zum anderen müsste auch der direkte Abbau der dem Problem zugrundeliegenden sozialen Ungleichheiten, etwa durch Bildungs-, Sozial- oder Steuerpolitik, Teil der übergeordneten Strategie sein.

Für Deutschland haben Geene et al. kurz vor Beginn der Pandemie festgehalten [14], dass HiAP-Ansätze bislang nur punktuell und projektbezogen implementiert wurden, und dass sie sich v.a. auf Kommunen oder Kreise beschränken. Dies gilt umso mehr für einen übergreifenden strategischen Ansatz zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten – obwohl nicht in Abrede gestellt wird, dass es starke und engagierte Akteure in diesem Feld gibt, die sich um die Entwicklung eines solchen Ansatz bemühen (z.B. Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit). Zwar wurde mit dem Präventionsgesetz im Jahr 2015 auch die Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit gesetzlich auf eine Grundlage gestellt, jedoch mit der Betonung der Krankenkassen bei der Umsetzung nur ein stark limitierter Rahmen zur Umsetzung geschaffen [14].

Träfe diese Analyse zu, wäre Deutschland schlecht gerüstet gewesen, um in einer akuten gesundheitlichen Krise, in der die Zeit für den Aufbau neuer Strukturen fehlt, auf eine sozial ungleiche Verteilung von Risiken zu reagieren. So war dann auch tatsächlich nicht zu erkennen, dass ein übergeordnetes strategisches Vorgehen sowie ein abgestimmtes Handeln aller gesellschaftlicher Akteure (Regierung, Institutionen, Forschung, Zivilgesellschaft) in diese Richtung erfolgt wäre. Eine konsequente Abwägung der Folgen von Beschlüssen zu Maßnahmen des Infektionsschutzes für gesundheitliche Ungleichheit im Sinne eines Health Impact Assessments ist ebenfalls nur in Ansätzen erfolgt. Allerdings wurde die Bevölkerungsgesundheit zumindest zeitweise an die oberste Stelle der politischen Prioritäten gestellt und der Gesundheitsschutz war in nahezu allen politischen Feldern ein Thema, da von der Bildungs- zur Finanzpolitik Regelungen zur Krisenbewältigung zu treffen waren. Zudem wurden Infektionsschutzmaßnahmen von wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumenten flankiert, auch wenn das primäre Motiv nicht die Vermeidung gesundheitlicher Folgeschäden war [15]. Weiterhin haben sich Initiativen aus der Zivilgesellschaft mit Chancengleichheit beschäftigt (z.B. Kompetenznetz Public Health COVID-19). Diese Priorisierung und Berücksichtigung von Gesundheit in vielen politischen Feldern deckt sich mit zentralen Gedanken des HiAP-Ansatzes und kann eventuell ein Anknüpfungspunkt für eine zukünftige Entwicklung sein.

Abschließend muss erwähnt werden, dass diese kurze Analyse angesichts des Redaktionsschlusses am 27.05.2020 vorläufig ist. Zudem beruht sie auf unsicheren Grundlagen, weil systematische empirische Analysen fehlen. Das Fazit ist also mit Vorsicht zu sehen, dennoch macht es aus unserer Sicht das Potential deutlich, dass eine weitergehende Analyse der Fallstudie „COVID-19“ für die Entwicklung von HiAP in Deutschland haben könnte.


*Korrespondenz: Prof. Dr. Nico Dragano, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Institut für Medizinische Soziologie, Centre for Health and Society, Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data neither for human nor for animals were collected for this research work.

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Online erschienen: 2020-09-08
Erschienen im Druck: 2020-09-25

©2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 18.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2020-0058/html
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