Fallreport

Ein 30-jähriger gebürtiger Kenianer, der als Pflegekraft in einem Altenheim arbeitet, wurde wegen einer akut aufgetretenen Vigilanzminderung, Verwirrtheit und psychomotorischer Unruhe, die ca. 1 h anhielten, stationär aufgenommen. Anamnestisch war 4 Tage zuvor die häusliche Quarantäne nach einer blande verlaufenden SARS-CoV-2-Infektion, die mit Fieber und Erbrechen einhergegangen war, beendet worden. Nach fremdanamnestischen Angaben der Lebensgefährtin ergab sich kein Anhalt für ein vorausgegangenes Schädel-Hirn-Trauma.

Klinisch-neurologisch zeigte sich ein verlangsamter Patient mit einer inadäquaten Reaktion auf Ansprache und psychomotorischer Unruhe. Im weiteren Verlauf klarte der Patient auf und zeigte kein weiteres fokal-neurologisches Defizit. Für einen Zeitraum von 1 h bestand eine retrograde Amnesie. Als begünstigender Faktor für einen möglichen epileptischen Anfall gab er einen seit dem Wochenende bestehenden Schlafmangel mit ca. 3–4 h Schlaf pro Nacht an. Ein aktueller Alkohol- sowie Drogenkonsum wurden toxikologisch ausgeschlossen, jedoch war aus der Anamnese eine durch Alkoholabusus ausgelöste akute Pankreatitis 09/2020 bekannt.

Bei der Bestimmung der Serumroutinelaborparameter waren die Glutamat-Pyruvat-Transaminase mit 72 U/l, die alkalische Phosphatase mit 169 U/l und die Lipase mit 808 U/l erhöht. Der CDT-Wert („carbohydrate-deficient transferrin“) war mit 1,5 % (Normwert <2,6 %) normal. Bei unauffälliger Schädelcomputertomographie (CT) zeigte das Schädel-MRT eine rundliche, in der FLAIR- und DWI-Wichtung hyperintense Läsion im hinteren Balkenanteil (Splenium), bildmorphologisch vereinbar mit einem RESLES („reversible splenial lesion syndrome“).

Die Liquoruntersuchung zeigte Normalwerte für Zellzahl, Liquoreiweiß und -glukose. Es zeigte sich darüber hinaus eine isolierte, intrathekale IgG-Synthese. Das Liquorlaktat war mit 3,3 mmol/l (Normwert <2,4 mmol/l) erhöht. Die ergänzende Bestimmung von Thiaminpyrophosphat war mit 48 µg/l normal (Normwert: 40–100 µg/l). Die Vitamin‑B12- (406 pg/ml) und Folsäurespiegel (14 ng/ml) waren ebenfalls normwertig. Die gesamte Serumdiagnostik und Liquorserologie inklusive Erregerdiagnostik (Lues, HIV, Hepatitis E) sowie ein Drogenscreening waren unauffällig. Elektroenzephalographisch waren keine epilepsietypischen Potenziale nachweisbar. Drei Tage später konnte der Patient nach dem erstmaligen komplex-partiellen Anfall beschwerdefrei nach Hause entlassen werden. Aufgrund der fremdanamnestischen Schilderung der Anfallssemiologie, fehlenden Hinweisen für ein SHT oder eine Intoxikation können wir das Geschehen nur als komplex-partiellen Anfall deuten. Gegen eine Enzephalopathie spricht die Kürze der Symptomatik. Die Veränderungen im Splenium waren bei einer MRT-Kontrolle 3 Wochen später komplett rückläufig (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

MRT, DWI/FLAIR-Wichtung bei Aufnahme (a,b) und 3 Wochen später (c,d)

Diskussion

Das reversible „splenial lesion syndrome“ (RESLES) ist eine klinisch-radiologische Entität mit in der MRT reversibler, rundlicher oder diffusionsgestörter Läsion im Splenium im dorsalen Anteil des Corpus callosum (SCC) mit variablen klinischen Manifestationen [1]. Patienten mit einer reversiblen Läsion im Splenium des Corpus callosum (SCC) wurden erstmals im Jahr 1999 von Kim et al. beschrieben [2]. In der Literatur werden mindestens 3 verschiedene Begriffe für diese Entität verwendet: „mild encephalopathy with reversible splenial lesion“ (MERS, [3]), „reversible splenial lesion“ (RESLES) und „cytotoxic lesion of the corpus callosum“ (CLoCC; [4,5,6,7]). Das Akronym MERS findet überwiegend bei pädiatrischen Fällen nach Virusinfekten Anwendung und unterscheidet einen Typ 1 mit isolierter Balkenläsion von einem Typ 2 mit zusätzlichen Marklagerveränderungen [8].

Im Jahr 2011 schlugen Garcia-Monco et al. anhand einer Analyse eigener und bereits publizierter Fälle das Akronym RESLES („reversible splenial lesion“) vor [9]. Dabei hoben sie die sehr gute Prognose der Betroffenen und die vielfältigen Ursachen hervor. In 60 % der Fälle ist das RESLES infektassoziiert (insbesondere Influenza-A- und -B-Virus, aber auch Rotavirus, Herpesvirus‑6, Epstein-Barr-Virus, Adenovirus, Mumps, CMV, Hantavirus, Salmonella enteritidis, Legionella pneumophila, Dengue-Virus, Escherichia coli, Streptococcus pneumoniae, Mycoplasma pneumoniae, Neisseria meningitidis, [9,10,11]). In etwa 12 % wurde ein Zusammenhang mit einer Epilepsie, insbesondere nach dem abrupten Absetzen von Antikonvulsiva (Levetiracetam, Carbamazepin, Valproat) im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik beschrieben. RESLES trat auch bei Patienten auf, bei denen Antikonvulsiva gegen neuropathische Schmerzen eingesetzt und dann abrupt pausiert worden waren. Weder die Häufigkeit der Anfälle noch ihre Art (partiell oder generalisiert) scheinen in dieser Hinsicht relevant zu sein. In der Mehrzahl der Fälle dieser Subgruppe ist offenbar der Antikonvulsivaentzug relevanter [9]. Weiterhin finden sich in der Literatur noch weitere Ursachen wie die Einnahme von Carboplatin, Citalopram, Metronidazol, Cisplatin oder Olanzapin, Kawasaki-Syndrom, Anorexia nervosa, Höhenhirnödem (HACE), Malnutrition, ein systemischer Lupus erythematodes (SLE), Vitamin‑B12-Mangel, Hypoglykämie, Hypernatriämie, Intoxikationen, Nierenversagen, bei denen der kausale Zusammenhang offen ist [9,10,11,12,13,14]. Fast die Hälfte der RESLES Patienten bietet klinisch Zeichen einer Enzephalopathie mit normalen Liquorparametern und ohne Anzeichen einer ZNS-Infektion [9]. Bei Kindern war dies häufiger mit Bewusstseinsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten assoziiert, sodass häufig die Bezeichnung „mild encephalopathy with reversible splenial lesion“ (MERS) verwendet wird [8]. Die Mechanismen, die RESLES zugrunde liegen, sind nicht vollständig geklärt. Signaländerungen in der DWI und ADC weisen darauf hin, dass ein passageres zytotoxisches Ödem das Korrelat der Läsionen im Splenium ist [15]. Die pathophysiologische Hypothese besagt, dass ein entzündlicher Prozess, an dem Zytokine wie IL‑6 beteiligt sind, die Akkumulation von Glutamat im extrazellulären Raum auslöst, was zu einem zytotoxischen Ödem, insbesondere von Astrozyten, führt. Die selektive Anfälligkeit des Corpus callosum könnte durch seine hohe Dichte an Zytokin- und Glutamatrezeptoren erklärt werden [4, 16].

Seit dem ersten Auftreten von SARS-CoV‑2 in der Region Hubei in China und der sich daraus entwickelten Pandemie wurde eine Reihe neurologischer Komplikationen einer SARS-CoV-2-Infektion beschrieben [17, 18]. In der Literatur wurde ein Zusammenhang zwischen neurologischen Symptomen und der Schwere der respiratorischen Insuffizienz beschrieben, sodass bei Beatmungspflicht neurologische Komplikationen häufiger als bei leichter Lungenaffektion sind (45 % vs. 30 %; [17]). Durchschnittlich 36 % der Patienten mit COVID-19 entwickeln neurologische Symptome, wie z. B. Kopfschmerzen, Bewusstseinstrübung und Parästhesien. Die SARS-CoV-2-Infektion kann mit neurologischen Symptomen und Zeichen beginnen [19]. Es werden verschiedene Mechanismen diskutiert, die zu neuronalen Schäden führen können einschließlich hypoxischer Schädigungen, Zytokinsturm mit der daraus resultierenden Beeinträchtigung der Blut-Hirn-Schranke, Interaktionen mit ACE2 und akuten ischämischen Ereignissen bei Hyperkoagulabilität [20]. Ein Zusammenhang mit Spleniumveränderungen wurde in Einzelfällen sowohl bei Kindern [21] als auch bei Erwachsenen [4, 6, 7, 22,23,24,25] beschrieben. Dabei traten diese fast alle bei Patienten mit schwerer respiratorischer und neurologischer Symptomatik auf.

Der von uns vorgestellte Patient hatte bis zum Ende der Quarantäne seiner mittels PCR nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektion weder respiratorische noch neurologische Symptome. Die typische reversible Spleniumläsion war 4 Tage nach Beendigung einer häuslichen Quarantäne im klinischen Zusammenhang mit einem erstmaligen komplex-partiellen Anfall aufgetreten. Zu diesem Zeitpunkt war der Patient fieber- und symptomfrei. Gegen eine Enzephalopathie im Rahmen des RESLES spricht die kurze Dauer der psychopathologischen Auffälligkeiten in unserem Fall. Hingegen boten fast alle bislang publizierten Fälle mit Spleniumveränderungen schwere neurologische und pulmologische Befunde. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass bei allen bislang publizierten Fällen im Erwachsenenalter (zwischen 26 und 75 Jahren) mit SARS-CoV-2-Nachweis und reversibler Spleniumveränderung ausschließlich Männer betroffen waren (Tab. 1).

Zusammenfassend sollte auch bei blande verlaufenden SARS-CoV-2-Infektionen beim Auftreten neurologischer Symptome eine vollständige zerebrale magnetresonanztomographische Bildgebung erfolgen, um transiente morphologische Veränderungen nachzuweisen. In Analogie zur transienten globalen Amnesie (TGA) mit häufigem Nachweis einer kleinen punktförmigen transienten Diffusionsstörung im Hippocampus bleibt die Ätiologie der reversiblen Spleniumläsion noch offen. Hervorzuheben ist jedoch die überwiegend sehr gute Prognose des RESLES (Tab. 1).

Tab. 1 Zusammenstellung aller bisher veröffentlichten Kasuistiken zu Patienten, die COVID-19 assoziiert eine transiente Signalanhebung im Splenium entwickelt haben und durch neurologische Symptome auffällig wurden. Alle veröffentlichen Fälle einschließlich des in dieser Kasuistik (Hermann et al.) beschriebenen Falls waren Männer. Neben Kopfschmerzen traten häufig qualitative und/oder quantitative Bewußtseinsstörungen auf. Während sich die Mehrzahl der Betroffenen innerhalb von wenigen Tagen erholte, verstarben 2 Patienten an der COVID-19-Infektion